Unsere Kollegin und multimediale Künstlerin Patricia Liedtke Wittenborn hat sich mit diesem Thema hier für unseren Blog auseinander gesetzt - fachlich und auch ganz persönlich: Lest selbst!
Manchmal reicht ein Samenkorn, dass auf den fruchtbaren Boden des sowieso vorhandenen künstlerischen Ausdruckswillens des Kindes stößt. Kunstbegegnungen in jeder Form können solche Samenkörner sein. In jedem Fall aber die Leidenschaft einer begleitenden erwachsenen Person als Vorbild.
Patricia Liedtke Wittenborn
Diplom Objektdesignerin/ Diplom-Sozialpädagogin/ Diplom-Medienpraktikerin und seit 40 Jahren Un-Diplom-Theaterregisseurin/Theaterpädagogin und Autorin,
Sie ist Urenkelin, Enkelin, Tochter, Mutter, Großmutter, kurz: Die Frau mit dem unerschütterlichem Glauben an die Kraft der Kunst
Ist es sinnvoll, kleine Kinder mit Kunst in Berührung kommen zu lassen?
Was ist denn das für eine Frage?
Unbedingt! Denn Kinder sind von Natur aus Künstler. Alle!
Künstlerisches Empfinden und der Wille zum künstlerischen Ausdruck entspringen ihrem
Schaffensdrang, ihrer Neugierde und Lust am spielerischen Gestalten und Formen, an Farbe, Spiel und Verwandlung, Musik und Bewegung. Kinder schöpfen sozusagen „naturbelassen“ aus dem Vollen, wenn man sie lässt, ihnen Raum lässt, wenn man ihren ureigenen Trieben, gepaart mit ihrer
Fantasie, Raum gibt.
Die Frage ist daher weniger: „Brauchen Kinder Kunst?“, sondern:
Wie unterstütze ich Kinder auf ihrem künstlerischen Weg?
Die Antwort ist erstmal so: Ich helfe ihnen, die Augen zu öffnen oder offenzuhalten. Ich gehe mit ebensolchen Augen durch die Welt. Ich interessiere mich, lebe meine Kreativität und umgebe mich selbst als Elternteil, als Lehrende, als Erziehende mit Kunst oder bin zumindest offen dafür. Weil ich es möchte. Weil ich von der heilsamen Wirkung weiß, weil ich es ahne, oder weil ich es bereits erfahren habe. Und weil ich es mir deshalb auch für das Kind wünsche.
Wo fängt die Kunst an?
Kunst ist ein dehnbarer Begriff. Ist für kleine Kinder, etwa im Kindergartenalter, das berühmte Bild eines großen Malers mehr „wert“ als das bunte Blatt, das rotgefärbt im Herbst auf den Waldboden segelt und mit den unterschiedlichen Farben und Texturen des Waldbodens ein spontanes, zufälliges, schönes und vergängliches Naturmosaik ergibt? Ist das Spontan-Naturkunstwerk „weniger Kunst“ als das gefertigte Bild? Entscheidet das Zielgerichtete des Kunst-Schaffenden und nicht die Zufälligkeit eines Ereignisses über Kunstwerk oder Nichtkunstwerk? Oder ist die Frage, ob Kunst oder Nichtkunst, allein dem Betrachter, dem Erwachsenen oder Kind zu überlassen? Diese Definitionsfrage würde hier zu weit reichen. Festzustellen ist aber, dass in den vorliegenden Betrachtungen nicht nur Bilder- und Objekt-Kunst gemeint ist, sondern auch die darstellenden und ausübenden Künste wie Theater, Tanz und Musik mit einbezogen werden und man hier angestellte Überlegungen meist auch auf sie übertragen kann. Ebenso muss die Kunst in der betrachtenden, teilnehmenden oder selbstgeschaffenen Form und Ausdrucksweise unterschieden werden. Selbstgeschaffen: Musik und Tanz als Ausdruck der Lebensfreude. Darstellendes Theater- und Rollenspiel als Weg, die Welt (der Erwachsenen) zu begreifen und Probleme zu bewältigen. Malen, um Erlebtes zu verarbeiten und auszudrücken oder auch „nur“, um mit Formen und Farben zu spielen. All das ist Kindern eigen. Wir wissen es, und „nähren“ und beruhigen Kinder im Kleinstbabyalter bereits mit Gesang, Bewegung und Spiel.
Wann und wie führen wir Kinder an die Kunst heran?
So wie es für Kindertheater oder Musik-CDs altersgemäße Untergrenzen gibt, was die kindlichen Betrachter bzw. Hörer angeht, so stellt man sich immer wieder die Frage, wann etwa Kindergartenkinder Kunstgemälde anschauen können, wie man sie heranführt, was sie „davon haben“. Kunsttherapeuten, Pädagogen und Kinderärzte sind sich einig:
Das frühzeitige Betrachten von Kunstgemälden sät Samen in die Kinderseelen. Und es ist dabei unwichtig, ob sie ein Bild „verstehen“ wie Erwachsene, oder ob sie sich an einzelnen Details erfreuen, einer bestimmten Form, der Farbenpracht insgesamt oder einer bestimmten Farbe, einer einzelnen Figur. Oder ob der Gesamteindruck des Bildes oder der Gesichtsausdruck einer Person, eines Tieres, sie fröhlich oder traurig stimmt. Das reicht. Die Kinder begreifen, dass das Bild, die Skulptur, ein anderer Mensch angefertigt hat, und zwar „extra“. Sie begreifen, dass es nicht dem Alltag entsprungen ist. „Extra“, weil er oder sie wollte oder weil er musste. Die Erinnerung an solche Berührungspunkte mit der „Kunst“ lassen sie später als Jugendliche und Erwachsenen leichteren Zugang finden zu anderen, weiteren Kunstwerken. Vorausgesetzt, die frühen Begegnungen waren mit Freude und Neugierde verbunden. Je mehr Kinder solche Ereignisse „vorgesetzt“ bekommen, besser formuliert: Je mehr Kinder an solchen Ereignissen teilnehmen können, desto mehr entwickeln sie eine Ahnung, ein Gespür, für unterschiedliche Bedürfnisse, Stilrichtungen, Ausdrucksformen.
Der Spaß der betrachtenden oder (im Theater, bei Performances) der teilnehmenden Kinder und der Spaß und die Leidenschaft der Erwachsenen, die es heranführen, sind ein wesentlicher Faktor, genauer gesagt die Basis, Kunst-Interesse (Interesse an anderen Künstlern und ihren Werken) zu erzielen. Kinder lernen beim Heranführen an die Künste anderer, dass auch ihre eigenen Kunstbestrebungen „berechtigt“ sind, möglich sind, erlaubt sind. Sie nehmen andere Kunst- Bestrebungen und Ausdrücke auf, unterscheiden sie von ihren eigenen oder stellen Ähnlichkeiten fest. Gewünschter Haupteffekt: Sie werden animiert, das Gesehene oder Erlebte oder Ähnliches zu probieren, entwickeln Spaß daran, sich weiter auszuprobieren und künstlerisch tätig zu sein und gelangen so mit der Zeit im Bestfall zu eigenen Ausdrucksformen und Vorlieben. Die Kinder entscheiden dabei je nach Alter, Ausdauer und Konzentrationsfähigkeit und je nach Vorliebe oder Erfahrung selber, was und wieviel sie aufnehmen von dem Dargebotenen, um es mit ihren eigenen künstlerischen Bestrebungen zu verweben. So wird ihre eigene Kreativität gefördert, ihnen Mut gemacht, weiter zu forschen und zu experimentieren. Vorausgesetzt, das Erlebte geschieht in Freude oder zumindest mit Neugierde. Das Betrachten der Kunstformen oder das Teilnehmen an den Kunstereignissen mit Kindern sollte auch nicht vordergründig zielbeabsichtigend sein, etwa mit dem Hintergedanken, was das Kind dabei alles lernen kann. (Wenn mein Kind daran teilnimmt, dann wird das… gefördert und das …und das…) Und nie sollte dem Kind Zugang zur Kunst ermöglicht werden, weil es „chic" ist, seine Kinder mit Kultur zu konfrontieren und es zu einem gewissen Bildungsgrad gehört. Trotzdem ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Auseinandersetzung mit Kunst „Nebeneffekte“ hat, die das Kind in der Entwicklung unterstützen:
Sie schult das Sehen und Wahrnehmen, die Sprache durch das In-Worte-Fassen des Erlebten und in der Diskussion darüber. Kindergartenkinder brauchen nicht zu wissen, wann welcher Künstler berühmt oder wichtig war, welche Stilepochen es gibt, welcher ein bestimmtes Werk zuzuordnen ist. Aber sie können durchaus wahrnehmen, dass es viele verschiedenen künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten gibt. Sie können unter wohlwollender Anleitung sich - animiert durch das Werk Kunstschaffender (im Museum/bei Performances) - ausprobieren durch von ihnen noch unbekannte Maltechniken/Werkzeuge/Ausdrucksarten, was wiederum die Feinmotorik trainiert. Dabei können wir Erziehende sie aufmunternd begleiten. Und dabei besser erkennen: Was liegt dem Kind, was kann es, wie kann ich seine eigene Kreativität, sein Künstlertum unterstützen. Leider entspricht dieses begleitende Fremd-Kunst-Verständnis und die Eigen-Kunst-Förderung oft aus Personalmangel oder anderen Gründen nicht den Bedingungen in vielen Kindergärten. Da gibt es vernachlässigte Mal-Ecken mit stumpfen Bleistiften, fehlendem Papier, da mangelt es an Ideen, Impulsen oder eben einfachen Dingen wie Anspitzern. Da werden den Kindern Schablonen und Ausmalbilder hingelegt, um sie zu beschäftigen. Da gibt es kein Geld für Theaterbesuche. Da werden Lieder lustlos oder in falscher Tonlage gesungen. Da werden kreative Bestrebungen von Kindern, die „mit Dreck“ oder „Umständen“ verbunden sind, von vorneweg unterbunden, oder fantasievoll aufgebaute Kunstwerke müssen beim Aufräum-Gong abgebaut werden, weil sie aus Platzmangel im Weg sind. „Ist das Kunst oder kann das weg?“ Da siegt sehr oft der schwäbische Kehrwochentrieb über die Auslebungstendenzen kindlicher Forscher und Schaffer.
Deshalb: Nicht nur die Material-Bereitstellung muss stimmen, sondern, wie einleitend erwähnt, auch der Raum, den ich den Kindern gewähre, muss vorhanden sein. Der tatsächliche Raum und eben auch der Raum im Kopf der Erziehenden. Der Raum, Impulse zu setzen und kreative Prozesse zuzulassen. Es muss nicht immer ein Museums-Besuch sein. Es reicht auch das Betrachten im Kindergarten-Morgenkreis von Fotos, Bildern, Büchern, auf/in denen Kunstwerke zu sehen sind, um Ideen sprießen zu lassen, die Fantasie anzuregen für kindereigenes Experimentieren. Und der Zeit-Raum als Faktor ist eben auch relevant. Im Museum etwa: Statt durchzujagen von Kunstwerk zu Kunstwerk ist es sinnvoller, zu verweilen. Dort, wo das Kind für sich etwas Beeindruckendes oder nachdenklich Machendes sieht. Bei einem Wolkenbild vielleicht, dass später zum Malen eigener Wolkenbilder anregt oder zum Erklettern des der Kita nächsten Berges, zum sich Hinlegen auf die Wiese, zum Betrachten der Wolken, zum Nach-Malen vor Ort oder später in der Kita. Raum und Zeit, nur so kann ich mir Konzentration auf das von anderen Geschaffene und auf das eigene Schaffen aneignen.
Da Kinder schon mit allem ausgestattet sind, was es zum Kunstbetreiben braucht, kann ich sie lediglich begleiten, sanft führen, Materialien und Techniken anbieten, oben beschriebene Impulse setzen. Aber nicht durch rethorische, bewertende oder vorgefertigte Meinungen! Meine Meinungen oder die von Kunstexperten, meine oder deren Bewertungen sollten die Kinder nicht beeinflussen. Nicht, wenn sie selber tätig sind, nicht, wenn sie ein Kunstwerk betrachten. Was sie sehen, was sie spüren, was sie erleben, das gilt. Für sie. Es gibt kein Richtig oder Falsch! Ich kann sie nach ihrem Erleben fragen (z. B. im Theater), nach ihren Gefühlen, nach dem, was sie gesehen haben oder was ihnen besonders gefallen hat… das reicht erst mal!
Je mehr ein Kind darauf aufbauend Kunstberührungen hat, desto mehr versteht es. Je mehr es sich selber ausprobieren kann, desto mehr Mut fasst es zum eigenen kreativen Ausleben. Man sieht, sagt man ja, wovon man schon mal gehört hat oder was man schon mal gesehen hat. Und wenn ich etwas sehe und verstehe, dann habe ich mehr Freude daran. Insofern, ja, her mit der Kunst für Kinder! Erst recht, wenn sie Freude haben an dem gemeinsam Erlebten. Auch wenn das Verstehen mit den Jahren wachsen muss.
Egal, ob ich mit dem Kind Kunst von anderen im weitesten Sinne „konsumiere“, mich damit umgebe, oder sie machen lassen: Ohne Lust und Freude oder Neugierde geht das nicht. Das gilt für das kindliche Erleben, das gilt aber auch für die begleitenden Erwachsenen.
Ich kann keine Leidenschaft für etwas vermitteln, wenn ich selber keine Leidenschaft dafür habe!
Vorbild ist die beste Erziehungsmethode, davon bin ich nach wie vor überzeugt. Als Vorbild kann man mich abbilden, mich nachahmen oder ablehnen (bzw. das Gegenteil machen - wie so häufig in der Pubertät).
Ob ich mit den Kindern an einem Kunstprojekt teilnehme oder ins Theater gehe, ob ich Bilder oder andere Kunstobjekte betrachte, ob ich mit ihnen Musik anhöre: Mein eigener Spaß, mindestens mein Interesse muss dabei sein. Denn für Erziehende, für Eltern, gilt meiner Meinung nach: Mit was ich mich umgebe, was ich den Kindern vorlebe, ob ich für etwas brennen kann, all das begeistert meine Kinder auch. Leidenschaft für etwas. Mit welchen Dingen umgebe ich mich? Habe ich Augen für Kunst, Kreativität und Schönheit um mich herum?
Sicher, nicht jeder kann es sich leisten, seine Kunst auszuleben. Es gibt Notzeiten, es gibt Krisenzeiten im Leben, es gab und gibt Kriegszeiten. Da stehen die existentiellen Probleme und der Lebenstrieb im Vordergrund. Manchmal leben erst Kinder das, was ihre Eltern nicht leben konnten. Ein Mädchen wird Tänzerin, weil ihre Mutter es durch Heirat und Kindererziehung nicht geschafft hat usw.. Künstlerische Bestrebungen dämmern verkannt oder unentdeckt oder unlebbar in sehr vielen Menschen. Aber für alltägliche „Problemchen“ gilt: Wer durch die Beschäftigung mit Kunst offener ist gegenüber anderen Meinungen, Ausdrucksformen und kreativen Lösungen, kann selber evtl. in schwierigen Zeiten offener, toleranter und flexibler sein für Lösungen. Kann neue Wege finden, kann auch Umwege denken und Andersartigkeiten stehen lassen (Was ist „normal“? Was darf sein? Wie viele Möglichkeiten gibt es? Was ist mein Weg?).
Ermutigen wir die kommenden Generationen, die Kunst zu erleben und auszuleben. Öffnen wir ihnen Räume, Möglichkeiten und Zeit, schenken wir ihnen dazu Mut und Selbstvertrauen, und tun wir es mit Liebe und Leidenschaft!
Nachschlag: In eigener Betrachtung
Lässt sich die These aufrechterhalten, dass kunstaffine Eltern und Großeltern, Erziehende und Lehrende auf das Kind „abfärben“?
Auf den ersten Blick:
Meine Ur-Großmutter mütterlicherseits, meine Großmutter und meine Mutter haben für ihre Existenz hart gearbeitet. Meine Urgroßmutter gehörte zu den Frauen, die mit 40 Jahren schon alt aussahen, abgearbeitet auf dem großen Gutshof, müde vom Kinderkriegen und vom ersten Weltkrieg. Hätte man sie nach der Lust an Kunst und Kultur gefragt, sie hätte nur müde gelächelt.
Meine Großmutter, ihr elftes Kind, arbeitete auf dem Hof mit, dann in einer Puppenfabrik, in einer Nähfabrik, dann baute sie sich als Ehefrau Gastwirtschaften auf. Zeit für Muße?
Meine Mutter, ihr einziges Kind, wollte das Gymnasium besuchen, dann kam der Krieg. Aus der Traum von der Modezeichnerin. Die Schulen waren zu. Der Krieg forderte die Mitarbeit in der elterlichen Gastwirtschaft. Nach dem Krieg kam die Ehe. Und die Kinder. Dann nur noch ein Job als ungelernte Verkäuferin.
Mein Vater kam aus einer Arbeiterfamilie. Sein Vater arbeitete bei den Wasserwerken in
Königsberg. Die Mutter, Hausfrau, verstarb früh. Vaters heimliches Vorgehen, auf ein Gymnasium zu gehen, um aus diesem Arbeiter-Kreislauf auszubrechen, wurde von seinem Vater jäh beendet. Er zog ihn ohrfeigend aus seiner Schulklasse. Schlosserlehre! Der zweite Weltkrieg brachte meinen Vater bis in die Gefangenschaft nach Nordafrika. Nach dem Krieg verbrachte er das restliche Arbeitsleben als Bauarbeiter. Wie war das noch mit Raum und Zeit für Muße, Kunst und Kultur?
Auf den zweiten Blick:
Meine Oma malte als Rentnerin auf allem, was ihr in die Quere kam: Sie lackierte neuen weißen Lack auf alte Möbel. Sie richtete ihre Wohnung immer wieder um, sie erfand sternförmige Beete in ihren Gärten, sie verzierte eigene Badezimmerkacheln und die ihrer Nachbarn mit gemalten Blumenmotiven. Alte Eis-Porzellantröge des zuletzt betriebenen Lebensmittelladens wurden mit Blumen bemalt und anschließend bepflanzt. Als Kind knotete sie mir aus meinem Schlafschmusetüchern Mäuse und ließ sie über meine Bettdecke huschen.
Da der Krieg verhinderte, dass Mutter Modezeichnerin wurde, entwarf sie für sich in stillen
Stunden als Jugendliche Papier-Anziehpuppen und deren Kleider, mit kleinen umknickbaren Papierrechtecken zum Anheften an die Papierpuppe. Sie schnitt sie aus und zog sie den Püppchen an. Zu mehr hat das Leben nicht gereicht. Und als sie wiederum Rentnerin war, malte sie hin und wieder. Blumenbilder. Manche rahmte sie ein, nur für sich. Als letztes malte sie jahrelang Mandalas aus, bis die Augen nachließen. Damit sollte ich mir eine Wand tapezieren, wenn sie mal nicht mehr da ist.
Also irgendetwas Künstlerisches musste in Mutter und Oma geschlummert haben.
Auch Vater mochte Musik. Sein Traum war eine Haus-Familien-Combo: Vater an der
Mundharmonika und am Kamm, wir Mädchen an Akkordeon und Gitarre, mein Bruder an der Trompete, meine Mutter singend. Auch saß er mit Mutter in den ersten Ehejahren oft abends vor der mühsam zusammengesparten Musikanlage. Sie hörten Radio oder eine neue Schallplatte an.
Auf Ausflügen wurde bei uns gesungen. Alte Volkslieder. Im Auto. Alle haben mitgesungen. Das waren die wenigen Momente, wo alles im Glück war. Alles stimmte, auch wenn der Text haperte: „Im Sommer, da muss man wandern, Scherzel ade!“ (statt „Schätzel“)
Und das Beste: Völlig unüblich in den sechziger Jahren erhielten wir Arbeiterkinder - als einzige in der ganzen Straße oder Klasse- von unseren Eltern ein Abo im Kindertheater am Ostwall in Dortmund. Das war eines der ersten Kindertheater, die es gab. Mehrere Male im Jahr wurden wir, fein angezogen, zu diesem Ereignis gebracht. Auch wenn ich vielleicht im Grundschulalter nicht alle Stücke ganz verstanden habe, habe ich sehr wohl diese besondere Atmosphäre gespürt: Das Abheben vom Alltag, die bunten oder besonderen Kostüme, das Licht, der Geruch, die stille
Konzentration der Zuschauer im Saal auf das Geschehen, das gemeinsame Erleben mit anderen Kindern, diese Kombination aus Ausstattung, Darstellung und Musik, und nicht zuletzt: Die Gummibärchen in der Pause. Wann gab es sonst Süßigkeiten!? Wann wurden wir sonst zu etwas hingefahren, allein gelassen und wieder abgeholt!?
Einmal, auf der Rückfahrt von einem Verwandtenbesuch, mussten wir auf der Autobahn extra schnell fahren, um die Vorstellung noch zu erreichen. Die Einlassfrau öffnete uns nachträglich leise die Tür in den Saal. Eintreten in das Besondere. Das Stück lief schon. Wir hatten es geschafft. Ich habe gedacht „Wir sind extra schnell gefahren, um hierhin zu kommen.“ Das hat mich beeindruckt und beglückt (und natürlich auch die Gummibärchen in der Pause.)
Ich glaube aber, das Beste daran war, dass ich im Theater begriffen habe, oder zumindest das Gefühl hatte, dass „die“ (damit meinte ich die Theaterleute, die Spielenden), dass „extra“ für uns machen. Für uns Kinder. Dass sie uns etwas vorspielen, damit es für uns schön ist, damit wir Spaß haben. Das lässt auch heute noch diese Theaterbesuche als etwas sehr Besonderes erscheinen. Es hat mich angeregt, demütig dieser Kunst gegenüber gemacht und beglückt zugleich. Ich glaube, das war mein Samenkorn, das dazu geführt hat, im späteren Berufsleben selber Theater mit Kindern zu machen, und das nun schon seit über 40 Jahren. Und ich liebe es ebenso, Musik mit Kindern zu machen, mit ihnen zu gestalten, zu bauen, Geschichten im Kopf entstehen zu lassen.
Früher mit meinen Kindern, jetzt mit meinen Enkeln. Im Kindergarten. In der Schultheaterarbeit. Da gibt es einen unendlichen Fundus von Geschichten, die noch geschrieben und heraus müssen. Irgendwann bald bin ich ja auch Rentnerin… Ich frage mich aber jetzt schon, warum auf meinen Möbeln bereits jetzt hie und da Blumenmotive sprießen.
Manchmal leben Kinder das, was ihre Eltern nicht leben konnten. Manchmal tanzt ein Mädchen die Tänzerin-Karriere der Mutter, die diese nicht ausleben konnte. Manchmal reicht ein Samenkorn, dass auf den fruchtbaren Boden des sowieso vorhandenen künstlerischen Ausdruckswillens des Kindes stößt. Kunstbegegnungen in jeder Form können solche Samenkörner sein. In jedem Fall aber die Leidenschaft einer begleitenden erwachsenen Person als Vorbild.
P.S. Alle meine Kinder haben in der Kindheit Theater gespielt, auch auf Theaterbühnen. Meine Tochter ist mittlerweile Theater - und Opern- Regisseurin. Der Apfel fällt dann doch nicht so weit vom Stamm.
Patricia Liedtke-Wittenborn
Aus der Produktion Zuckertüte oder der Ernst des Lebens (LTT)
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